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„Es ist alles so surreal“: Simon Kramer bei den Eltern im Wohnzimmer. Die E-Gitarre begleitet ihn überall hin, nach Twistringen genauso wie nach Chicago. - Foto: Heinrich Kracke

Twistringer Simon Kramer an der E-Gitarre in der Band von Chartbreaker Alice Merton / Mitte November auf US-Tournee

TWISTRINGEN (kra) › Es ist nur ein Sofa. Bei den Eltern im Wohnzimmer steht es. Ein Sofa, das viel Platz bietet für alle. In- mitten von Gitarren, die an der Wand hängen, und jeder findet sie schön. Und die üppige CD-Sammlung zieht die Blicke auf sich, und die Stehlampe ist keine Stehlampe im herkömmlichen Sinn, sondern ein Scheinwerfer. Und mittendrin das Sofa. „Einfach nur hinfläzen und nichts tun,“ sagt Simon Kramer. Auf Socken durchs Haus laufen, Badelatschen an, und dann hinfläzen. „Ich brauche das. Es erdet.“ Chillen auf einem Sofa, das nicht reden kann, und doch so viel sagt. Das Sofa ist real. Und auch alles andere, ja, es ist alles wahr, es ist kein Traum.

 

Der Twistringer Simon Kramer ist E-Gitarrist. Er gehört der Band der Rockröhre Alice Merton an. Mit dem Titel „No Roots“ stürmten sie die bundesdeutschen Charts schon im März, und belegten im Mai für drei Wochen Platz zwei, und rangieren nach 37 Wochen aktuell immer noch in den Top 100 und starten jetzt zur US-Tournee, und stürmen just die Billboard Charts, und haben mit „Hit The Ground Ru ning“ schon das zweite heiße Eisen im Feuer. Läuft also.

„Das ist alles so surreal“, sagt der 23-Jährige, und fläzt sich aufs Sofa. Wäre nicht das Sofa, müsste er sich kneifen. Nein, kein Traum. Und dennoch, so wirklich versteht er es nicht. „Es geht durch die Decke. Es hört nicht auf. Es geht immer mehr durch die Decke.“

Lange her, dass er wieder mal den Weg nach Twistringen gefunden hat. Diesmal ist ein Geburtstag im Hause Kramer der Anlass. Happy Birthday für Kevin, die Omas am Kaffeetisch, alles so vertraut, und dennoch weit weg, und trotzdem schön. „Ich glaube, sogar meine Omas kennen den Titel inzwischen.“ Aber viel gesprochen haben sie nicht über diese Musik. Endlich mal Menschen, die nicht über diese Musik reden wollen. Auch die Freunde nicht. „Viele sind ja nicht aus meinem Abi-Jahrgang hiergeblieben. Wir treffen uns kurzfristig. WhatsApp. Hast du Zeit? Wir gehen essen, wir reden, wir spielen Karten.“ Alles wie früher, was ja noch nicht lange her ist. Simon Kramer ist erst vor vier Jahren nach Mannheim gezogen. Popmusik-Uni. Studium. Weihnachten und Ostern sind feste Termine für eine Stippvisite bei den Eltern, bei den Geschwistern, doch selbst die fallen zuletzt verkürzt aus. Auf dem Klingelschild fehlt sein Name längst. Aber ganz ohne ginge es auch nicht. „Alles noch so vertraut.“ Eine Trutzburg gegen das „Stressumfeld, dem ich mich sonst nicht entziehen kann.“

Er hat es nicht anders gewollt. Und er kann es. Soviel steht fest. Simon Kramer hat das sogar schriftlich. Ein paar Klicks auf dem Laptop, und schon liegen sie vor ihm, die Urkunden. Sieger beim Kreisentscheid „Jugend Musiziert“, Sieger beim Landesentscheid, Sieger beim Bundesentscheid. Ein Blues-Impro präsentierte er beim Bundesentscheid. Alles erst sechs Jahre her. Alles mit der E-Gitarre. Mit der Familien-Band K4, mit Vater Hubert Kramer, mit den Brüdern Kevin und Lennart, gelang ihm regionale Berühmtheit mit Rockcovern in der Alten Ziegelei oder auf Motorradtreffen oder beim Jahresauftritt in der Gaststätte zur Penne. Am Flügel machte er sich ebenfalls einen Namen. Aber reicht das schon für die große Karriere? „Nein, reicht nicht“, entschied Simon, „man muss raus. Man muss Leute finden, die das Gleiche wollen.“

Er fand diese Leute in Mannheim. „Ich glaube, ich bin von den anderen Studenten mehr beeinflusst, als von den Dozenten. Alle können irgendwas anderes sehr gut. Da sortiert man sich ein, und versucht sich zu verbessern.“ Schon schwer genug, aber längst noch nicht alles. Am Ende taucht nämlich ein Problem auf. „In der Studienzeit kann man rumexperimentieren, aber irgendwann muss man davon leben.“ Und das macht es schwierig. „Zumal mit einem Abschluss wie meinem, mit dem man sich nirgends bewerben kann.“

Nein, Kontakte müsse man, müsse er knüpfen. „Alles läuft nur über Kontakte.“ Simon Kramer gehört mehreren Bands an. Einer progressiven Metall-Combo zum Beispiel. „Wir haben viel gemacht in den vergangenen vier Jahren. Ich habe Songs geschrieben, diese Musik ist mein Bachelor-Projekt. 40 Minuten neu geschriebenes Programm.“ Und das reicht für den systematisch betriebenen Durchbruch? „Reicht nicht,“ sagt Simon Kra- mer, „die Zielgruppe ist zu klein.“ Im Studium könne man noch probieren. Später nicht mehr. „Ich betrachte es als mein Ausgleichsprojekt.“ Unwichtig ist ihm die Band dennoch nicht. Wer weiß, wozu es eines Tages gut sein kann.

Die Uni-Mensa ist ein beliebter Ort zum Kontakte knüpfen. Irgendwann saß sie ihm gegenüber. Beide nahmen vor vier Jahren das Studium an der Pop-Akademie auf. Das verbindet schon mal. Sie, das ist Alice Merton. Sie diskutierten dieses und jenes und sprachen auch darüber, wie es so ist, eine Band zu gründen. Beide völlig unbekannt. „Sie hat mich gefragt, ob ich in ihrer Band die E-Gitarre übernehme.“ Er übernahm. „Wir haben viel rumprobiert. Es hat sich gezogen.“ Einige Konzerte immer mal wieder. Gewiss. Aber von großer Karriere konnte keine Rede sein. Sie hatten nicht mal ein Label. „Und auch als wir ,No Roots‘ einspielten, hatte ich nicht das Gefühl, das wird der Durchbruch. Andere Titel klingen besser. Dachte ich damals.“

Was hatte er sich nicht alles zurechtgelegt. Wie er es anstellen würde, auf den Empfehlungslisten der Radiosender zu landen, alles malte er sich aus, in Kindertagen schon, sagt Simon Kramer, „und ich wusste, es ist sehr unwahrscheinlich, dass es ge- lingt.“ Und auf einmal war es da. Über Nacht. Und er kann es noch immer nicht fassen. „Unglaublich.“ Und es ist nicht mal nur ein One-Hit-Wonder. „Hit The Ground Running“ zog gleich nach der Veröffentlichung im August auch in die Airplay-Charts ein. „Ich muss das jetzt erstmal alles realisieren.“

Viel Gelegenheit bleibt nicht. Chicago, Kansas, Austin, Dallas, das sind die vier ersten US-Städte, in denen sie in der zweiten November-Hälfte gastieren werden. Vier Konzerte an fünf Tagen. Und zwischendurch 2000 Kilometer zurücklegen, eine Strecke von Twistringen bis weit hinter Rom. „Viel Off-Zeit werden wir da nicht haben.“ Anfang Dezember sind sie live auf Konzerten in Deutschland zu sehen, ehe der zweite Teil der US-Tournee beginnt. Los Angeles, Denver, Washington, Philadelphia. Kurz vor Weihnachten werden sie wieder zurück sein.

Er war noch nie in den Staaten, sagt Simon Kramer, er hoffe dennoch, ein bisschen vom Lebensstil mitzubekommen. Vielleicht gefalle ihm ja auch die US-Küche. „Die Burger werde ich auf jeden Fall probieren. Hab‘ schon viel Gutes davon gehört.“