Jugendliche lernen Umgang mit Krisen

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Jungen Menschen Lebenskunst vermitteln – das wollen (v.l.) Peter Schwarze, Martin Lütjen und Jürgen Kramer. - Foto: Seidel

Twistringen - Von Anke Seidel. Wer bin ich? Diese Frage ist schwer zu beantworten – selbst wenn man seine eigenen Stärken und Schwächen gut kennt. Denn erst im Umgang mit anderen, in Beziehungen zu anderen Menschen, lernen wir uns wirklich selbst kennen.

Diese Erkenntnis, das Selbst-Bewusstsein, kann in Krisenzeiten eine Kraftquelle sein – Lebenskunst, die Lebensqualität schaffen kann. Am Hildegard-von-Bingen-Gymnasium in Twistringen steht genau das auf dem Stundenplan der Oberstufe.

Schulleiter a.D. Martin Lütjen spricht von „Persönlichkeitsbildung“, die Schüler in der elften und zwölften Klasse in diesem Seminarfach erleben, das in Niedersachsen in dieser Form wohl einmalig sein dürfte. Denn am Hildegard-von-Bingen-Gymnasium arbeiten nicht nur drei Lehrkräfte mit den Schülern an dieser Lebenskunst, sondern genauso der Diplom-Psychologe Jürgen Kramer aus Barnstorf-Aldorf. Mit einem Modellprojekt hatte der 63-Jährige vor vier Jahren den Impuls dafür gegeben.

Nachdem Kramer an der Donau-Universität Krems in Österreich „Integrative Human Therapie und Agogik“ studiert hatte, entwickelte er dieses Modellprojekt zum Thema „Lernfeld Liebe und Lebenskunst“ – und gab seiner Abschlussarbeit für den akademischen Grad „Master of Science“ den Titel „Der Liebe wegen“. Nach großer Resonanz: Festes Seminarfach

Weil die Resonanz der Schülerinnen und Schüler so groß war, ist aus dem Modellprojekt ein festes Seminarfach geworden, an dem Jungen und Mädchen gleichermaßen großes Interesse haben. „Bei etwa der Hälfte der Oberstufen-Schüler ist dieses Seminarfach die erste Wahl“, stellen Martin Lütjen, Jürgen Kramer und Schulleiter Peter Schwarze klar. Für Schwarze ist das Seminar eine willkommene und intensive Vertiefung der Impulse, die am Gymnasium ab der fünften Klasse angeboten werden.

Das Interesse der Oberstufen-Schüler überrascht nicht: Weil es im Seminar nicht nur um Persönlichkeitsbildung, sondern genauso um die Gestaltung von „Nahbeziehungen“ geht, reflektieren alle hautnah die Herausforderungen des Alltags – „am eigenen Leben ansetzend und nicht theoretisch“, betont Kramer. Deshalb gibt es auch keinen starren Themenplan. Was thematisiert, hinterfragt und erarbeitet wird, vereinbaren Lehrkräfte, Schüler und Psychologe gemeinsam.

Jürgen Kramer liegt die Prävention ganz besonders am Herzen – vorbeugend ansetzen, damit Menschen Leid erspart bleibt. Gescheiterte Beziehung, Trennung, Scheidung – all das ist meistens mit großem persönlichen Leid verbunden, „aber auch mit volkswirtschaftlichem Schaden“, betont Kramer mit Blick auf ungezählte Wohnhäuser und Zuhause, die bei einer Trennung viel zu oft unter den sprichwörtlichen Hammer kommen. Patentlösungen gibt es nicht

Perfekte Lösungen für alle Krisenfälle und Glücksstrategien liefert das Seminar aber nicht: „Patentrezepte sind unmöglich!“, betont Martin Lütjen mit Blick auf die völlig unterschiedlichen Lebens-Herausforderungen völlig unterschiedlicher Menschen. Das Seminar eröffnet Jugendlichen aber Möglichkeiten, sich Krisen konstruktiv stellen zu können – auch nach Trennung der Eltern, die heutzutage fast jedes zweite Kind in einer Klasse erlebt habe.

„Jede Beziehung endet mit einer Trennung“, betont Kramer ganz bewusst, „selbst die längste Lebensbeziehung endet. Mit dem Tod.“ Diese Erkenntnis sei der Spannungsbogen, unter dem das Thema Beziehungen behandelt werde. „Identität ist ein ganz großes Thema“, berichtet der Psychologe aus dem Schulalltag – und nennt weitere wichtige Arbeitsthemen: „Wie geht das, gut miteinander reden? Wie geht streiten? Was sind klassische Krisen in Beziehungen?“

Rund 80 Schülerinnen und Schüler haben von dieser praktischen Arbeit bereits profitiert. Das jeweils zweijährige Seminar ende mit einer Evaluation, sprich Prüfung der Wirkung. Und: Schüler und Lehrkräfte bereiten gemeinsam die Themen für das nächste Seminar vor.

Die Pädagogen und der Psychologe wollen ihre Erkenntnisse und Erfahrungen weiter geben. Deshalb bieten Martin Lütjen und Jürgen Kramer am 22. und 23. Februar im Hildegard-von-Bingen-Gymnasium Twistringen eine Fortbildung für Lehrer der Senkundarstufe II, Beratungslehrer und Schul-Sozialpädagogen an. Weitere Infos im Internet

www.lebenskunst-in-schule.com