Auf Tournee mit einem Pop-Star

Der Twistringer Simon Kramer nennt sich selbst den „Sideman“ von Alice Merton. Mit dem Song „No roots“ sind sie weltberühmt geworden.

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Live in Brüssel: Der Twistringer Simon Kramer ist Gitarrist in der Band von Pop-Star Alice Merton. Er hat ihren kometenhaften Aufstieg von Beginn an begleitet. (Sarah Köster)

Wenn Simon Kramer jetzt zur Arbeit muss, dann nimmt er den Flieger. Vom Flughafen Hamburg nach Glasgow, von Glasgow nach Rom, von Rom nach Mailand und wieder zurück nach Hamburg. Unter anderem diese Städte waren Ende Januar Stationen auf der Promo-Tour von Alice Merton, die seit ihrem Mega-Hit „No roots“ weltbekannt ist. Simon Kramer gehört zu ihrer Band, er ist ihr Gitarrist. Der gebürtige Twistringer, der inzwischen in Hamburg zu Hause ist, lebt das Leben eines Rockstars.

 

Kramer ist in New York in der Late Night Show von Jimmy Fallon aufgetreten. Er hat zweimal an Silvester am Brandenburger Tor vor einer Million Menschen gespielt. Er hat Auftritte in italienischen Fernsehshows, im ARD-Morgenmagazin und bei der BBC hinter sich. Nicht schlecht für einen, der mit 16 musikalisch zum ersten Mal auffällig geworden ist, als er den ersten Platz beim Bundesentscheid von „Jugend musiziert“ belegte. Er spielte eine Blues-Improvisation auf der E-Gitarre. Damals war er noch Schüler am Gymnasium Twistringen, sieben Jahre ist das her.

Der Aufstieg ist rasant, aber ein gemachter Mann ist er deshalb noch lange nicht. Kramer, 24, ist Berufsmusiker, er lebt seinen Traum, das ja, im Moment kann er sehr gut davon leben, aber wie lange geht das gut? „Das“, sagt Simon Kramer, „muss ich noch herausfinden.“ Er lacht bei dem Satz, ihm ist vor der Zukunft, die keinen gesicherten Schreibtischjob mit Arbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr bereithält, nicht bange. Er wähnt sich gut aufgestellt.

Bandprojekt Soulsplitter

Er gibt Gitarrenunterricht, und er hat ein eigenes Bandprojekt, das er mit viel Liebe vorantreibt. Soulsplitter heißt die Gruppe und macht Prog Rock, spielt also harte und verschachtelte Songs. Die erste CD ist fast fertig. Demnächst beim Release-Konzert soll während des Auftritts live ein Film, eine Graphic Novel, auf der Bühnenleinwand mitlaufen, ein anspruchsvolles Projekt. Die Bandpräsentation im Internet, auf Instagram und bei Facebook läuft gerade an. Viel Arbeit neben dem Kerngeschäft und der eigentlichen Liebe, dem Songschreiben und dem Gitarre spielen. Aber wenn Kramer eines gelernt hat als Profimusiker, dann das: „Man muss immer was machen, in der Szene aktiv sein, Marketing betreiben, Netzwerke knüpfen.“

Hilfreich ist dabei, dass er, musikalisch gesehen, der Mann an Alice Mertons Seite ist. Kramer und Merton, deren kometenhafter Aufstieg vor knapp zwei Jahren begann, haben sich vor fünf Jahren beim Studium an der Pop-Akademie in Mannheim kennengelernt, Studienrichtung Popmusikdesign, Komposition und Songwriting. In der Mensa saßen sie oft zusammen, irgendwann fragte Merton, die in Frankfurt am Main geboren und in Kanada und England aufgewachsen ist, ob er nicht Lust hätte, Gitarre in ihrer Band zu spielen. Er hatte Lust.

Sie gingen den Weg aller Bands, die klein anfangen: Sie starteten im Proberaum. Vielleicht mit dem Vorteil, dass sie dank ihrer Ausbildung besser als andere wussten, was sie taten. Es war nicht immer leicht in dieser Zeit. Kleine Klubs, wenige Zuschauer. „Aber man muss an seine Sache glauben“, sagt Kramer. Er weiß, dass sich im Rückblick gut reden lässt, wenn man das Happy-End kennt. Aber er bleibt dabei, sagt, dass er tatsächlich nicht gezweifelt habe. „Warum nicht?“, fragt er, „weil Alice Ohrwürmer schreiben kann.“

"No roots" gar nicht mal der beste Song

Den Song „No roots“, der Mertons Ruhm begründete und für den es dank Millionen verkaufter Exemplare, Streams und Downloads zwei Mal Gold und sieben Mal Platin gab, diesen Song hielt Kramer anfangs gar nicht einmal für den besten. Dafür kannte er viel zu viele andere Stücke, die Merton komponiert hatte. Er sagt: „Aus so vielen Proben blieben so viele Melodien in meinem Kopf hängen. Du kannst dir das nicht erklären, und wenn du dir das nicht erklären kannst, dann muss es Magie haben.“

Dass sich Mertons Zauber vor einem Millionenpublikum entfaltete, hatte viel mit einem Werbe-Clip zu tun, Kramer sagt, „bis dahin waren wir unter dem Radar“. Nach dem Start der Vodafone-Kampagne, in der das Lied mit dem charakteristischen „roo-uh-oots“ auftauchte, ging es Schlag auf Schlag. Chartplatzierungen in allen wichtigen Ländern, Platz zwei in Deutschland, Platz drei in Österreich, 39 Wochen in den deutschen Hitparaden, 51 in der Schweiz, schließlich auch Platz eins in den alternativen Rockcharts in den USA.

„Die Sache schoss durch die Decke“, sagt Kramer. Größere Bühnen, mehr Publikum, Radio und Fernsehen und die erste USA-Tournee. 2017 war das, ein verrücktes Jahr, und es gibt viele schöne Erinnerungsfotos aus dieser Zeit: einen Schnappschuss mit ZZ-Top-Gitarrist Billy Gibbons, Aufnahmen vom Lollapalooza-Festival in Berlin und Bilder von einer Akustik-Session im berühmten KNDD-Sender in Seattle, wo einst Pearl Jam, Nirvana und Soundgarden entdeckt wurden. Quasi nebenbei schloss Kramer in diesen rastlosen Monaten auch noch sein Studium erfolgreich ab. In der Nacht vor der abschließenden Klavierprüfung saß er nach einem Konzert noch hinten im Sprinter und übte auf dem Keyboard.

In Sachen Alice Merton ist im Moment ein wenig Zeit zum Verschnaufen, die erste Welle an Promotionterminen ist abgeflacht, die CD verkauft sich gut, sie war nach zwei Wochen schon die Nummer zwei in Deutschland. Die nächsten Daten, die Kramer sich für Alice Merton freihält, sind die Festivalwochenenden im Sommer, dann wird er auf jeden Fall dabei sein, für alles andere steht er aber auch zur Verfügung, „ich bin Abrufmusiker“, sagt er. Auch für andere Kollegen. Ob er einen Job annimmt oder nicht, entscheidet er anhand von drei Kriterien: Sind die Leute cool? Ist die Musik gut? Stimmt die Gage? Wenn er zwei der drei Fragen für sich mit ja beantwortet, dann macht er den Job.

Wenn er über seine Rolle bei Alice Merton spricht, dann nennt er sich manchmal „Sideman“. Ihm gefällt diese Beschreibung. Er erreicht mit seiner Musik viele Menschen und muss dafür nicht einmal im Rampenlicht stehen. Alice ist der Star, sie gibt ihr Gesicht, sie erzählt in den Songs ihre Geschichte. Simon Kramer sagt: „Sie steht mit ihrer Künstlerpersönlichkeit im Zentrum.“ Und er mit der Gitarre daneben.