Sechstklässler proben den Ernstfall im Projekt „Wir sind stark“

20160225

Twistringen - Von Michael Walter. Es ist ein bedrohliches Szenario, das die Kinder da simulieren: In zwei Reihen stehen sie im Saal und lassen nur einen kleinen Durchgang. Vielleicht ein Tunnel oder eine enge Gasse. Von der einen Seite kommt ein kleiner Junge. Auf der anderen versperrt ihm ein in schwarz gekleideter Mann den Weg.

 

„Zeig mal dein Handy“, sagt er. Der Junge will vorbei, kann aber nicht. „Brauchste gar nicht erst versuchen“, sagt der Mann. „Da hinten stehen meine Kumpels, da gibt‘s gleich richtig auf die Fresse!“

Der Mann in Schwarz ist Ingo Müller von der Syker Polizei. Die Kinder gehören zum sechsten Jahrgang des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums. Alle drei Klassen des Jahrgangs haben jetzt jeweils zwei komplette Vormittage im Pfarrzentrum im Projekt „Wir sind stark“ mitgearbeitet. Dabei geht es um Strategien gegen Gewalt und um Zivilcourage.

„Wie hätte Leonid sich in dieser Situation verhalten sollen?“, fragt Schulsozialarbeiterin Maria Stenner-Dieckmann in die Runde. „Umdrehen und weggehen“ kommt die Antwort. Gute Idee. Bloß: Wohin? „Zur Polizei“, sagt ein Mädchen. „Abends ab zehn musst du da nach Syke laufen. Das ist ein weiter Weg“, entgegnet Stenner-Dieckmann. „Lasst uns andere Vorschläge sammeln.“

Viele haben solche Situationen schon erlebt

Am Ende kommen die Schüler fast von allein auf die „drei L“, auf die der Polizist und die Sozialarbeiterin hinaus wollen: Leute, Lärm und Licht. Soll heißen: Nicht in eine dunkle Ecke laufen, wo einen niemand sieht, sondern wo es möglichst hell ist und wo Menschen sind – und dann diese Menschen möglichst laut auf sich aufmerksam machen.

Überraschend viele aus der Klasse haben solche Bedrohungssituationen schon selbst erlebt. Ein Junge erzählt, wie eine Gruppe älterer Jugendlicher ihn und seinen Freund mal mit ihren Fahrrädern regelrecht eingekesselt hatten. Sie konnten ausbrechen und weglaufen. Ein Mädchen ist mal von einem Unbekannten am Fahrradkorb festgehalten worden. Und ein anderer Junge erzählt, als er mit seinen Freunden einmal Klingelstreiche gespielt hat, sei der Bewohner mit einem Messer in der Hand hinter ihnen hergelaufen.

Ingo Müller hakt ein: „Für uns bei der Polizei ist es ganz wichtig, dass ihr uns sowas mitteilt. Erzählt das auch euren Eltern, erzählt das an der Schule. Das ist wichtig!“

Nächste Übung: Jemand stellt eine völlig absurde Forderung auf und alle sollen dazu Ja sagen. Müller fängt an: „Seid ihr auch dafür, die Sommerferien abzuschaffen?“ Auftragsgemäß antwortet jeder Einzelne in der Runde mit Ja. Das passiert ein paarmal so, selbst bei Gewissensfragen, wo es um den liebsten Fußballverein geht. Niemand hat den Mut dazu, entgegen der Anweisung Nein zu sagen.

„Was macht ihr denn, wenn ihr eine CD klauen sollt, damit ihr in eine bestimmte Gruppe aufgenommen werdet?“, fragt Maria Stenner-Dieckmann. „Deswegen haben wir diese Übung gemacht. Ihr habt alle Ja gesagt, obwohl ihr euch bei einigen Sachen damit gequält habt. Steht zu eurer Meinung“, rät sie den Kindern. „Auch wenn andere sie nicht teilen.“

Seit drei Jahren betreut Stenner-Dieckmann dieses Projekt schon am Twistringer Gymnasium. „Die Kinder sollen erfahren, wie wichtig Zivilcourage ist“, erklärt sie. „Und sie sollen ein Gespür entwickeln, sich nicht in Gefahr zu bringen.“ Als durchaus erwünschter Nebeneffekt wachsen durch die spielerischen Übungen auch das Vertrauen der Schüler untereinander und das Gruppengefühl. „Der Umgang in den Klassen verändert sich“, hat Stenner-Dieckmann beobachtet. „Nicht sofort und nicht bei jedem. Das ist ja keine Spontanheilung hier. Die Lehrer müssen da schon am Ball bleiben.“